How can I get over

Ein Anruf, ein Telefonat ist eigentlich eine alltägliche Angelegenheit. Wir tun es täglich, jeder tut es. Doch manchmal ist ein Anruf nicht einfach nur ein Anruf sondern ein Schritt wie durch eine durchsichtige Wand mitten hinein in eines anderen Menschen Leben; mitten hinein rückwärts in die Geschichte. Und urplötzlich wird einem gewahr: sie ist nicht vorüber, die Geschichte! Sie lebt noch, ist präsent. Das Herz der Geschichte schlägt noch im Burstkorb vieler Überlebender und es schlägt leidlich und voller Leid.

All is coming back

Ein Anruf in die USA genügt. Am anderen Ende der Leitung lebt Vera N., das ist bekannt und auch, dass Vera 1925 geboren ist. Schnell wird der Hörer abgehoben, eine brüchige Stimme meldet sich und es dauert einige Zeit bis Vera versteht, weshalb sie angerufen wird. Es geht um ursprünglichen Besitz ihrer Tante Klara aus einer ostdeutschen Stadt. Kaum sind die Namen der Familie und der Name der Stadt gesagt schluchzt Vera N. auf der anderen Seite des großen Teiches in den Hörer: „All is coming back.“
Und das all bricht sich gegen Bann Bahn und schwemmt sich durch die Leitung bis hinüber zur Anruferin aus Europa, wie ein historischer Tsunami: Deutschland, Kindheit, Juden, Kultur, Nazis, Pogrome, Synagoge, Reichskristallnacht, Kindertransporte, Gestapo, KZs, Gelber Stern, Eltern in Auschwitz, Todesmarsch. Allein.

Sie fragt: „You are jewish, jewish german or german german?“ Ihre Stimme klingt wie die eines Kindes, sie verwendet einfache Worte und drückt damit nur deutlicher aus, wie es in ihrem Inneren wohl schmerzen muss. Immer noch schmerzen muss.
„I cannot get over!“ sagt sie mehrmals. „How can I get over!“, fragt sie nicht, sondern stellt es für alle fest, die den Holocaust überlebt haben. Ja, wie kann man darüber hinwegkommen?
Sie hat alle verloren „Everyone in my Family was gassed – just me and my three cousins survived.“
Dann erzählt sie, dass ihre Mutter auf einem Todesmarsch umgekommen ist, ihr Vater zuvor auf der Straße „he was on his way to work“ erschossen und der Rest ihrer Familie: Großmutter, Großvater, Brüder und Schwestern der Mutter, Brüder und Schwestern des Vaters in Auschwitz vergast worden sind. Das nimmt sie jedenfalls an. „From most I do not know their destiny.“
Und wieder sagt sie, dass sie nicht darüber hinwegkommt und dass man ihr ganzes Leben lang gesagt habe, sie solle nun (endlich) vergessen: „Get over, get over. But I can`t.“

Entschädigung?

Die Anruferin in Europa möchte weinen, kann aber nicht. Soll auch nicht. Weinen über das erlittene Leid eines anderen nötigt dem, der erlitten hat, seine Empfindungen ab. Leiden findet erst eine Art von Beruhigung, wenn das Leiden tatsächlich erlitten werden darf.
In Vera hat sich gerade ihre Erinnerung in Gang gesetzt – es wirkt, als tauche sie rückwärts in das ein, was ihr vorwärts das Leben bestimmt hatte. Sie spricht aufgrund ihrer Aufregung wie eine Stenotypistin schreibt und doch ist klar, von was sie redet: Sie hat Entschädigungszahlungen von Deutschland erhalten: 1000 $ weil sie ein Kind eines Kindertransportes war, 5000 $ für sog. Ausbildungsausfall und 1500 $ für den Tod ihrer Mutter.
„Is this Entschädigung to get 1500 $ for a mother?“

Dann schweigt sie und die Anruferin schweigt auch. Vera weint leise. „How could I get over!“

 

Euer iLANOT