Leipzig im Mai 2015. In der wunderschön renovierten katholischen Gemeinde im Süden von Leipzig brennen die Kerzen auf der Menorah und Yosef sitzt, seinen Rücken wieder so kerzengerade durchgedrückt wie schon bei unserem ersten Treffen in Jerusalem, in knallrotem Markenpullover am Tischende – direkt vor dem Leuchter.
Es ist sein 80. Geburtstag. Eine Gruppe von Menschen, die ihn aus unterschiedlichen Gründen kennen, hat ihn eingeladen, seinen Geburtstag in Leipzig zu feiern, und hierfür das nötige Geld gesammelt und gespendet. Auch wir sind zu dieser Feier eingeladen – die Vorstellung, dass Yosef in Deutschland ist und wir ihn nicht treffen – einfach unvorstellbar. Der Kontakt zu ihm ist mit der Zeit gewachsen, auch wenn vieles nur noch durch Telefonate möglich ist.
Yosef im Zentrum der Tischrunde, mit seinem aussagekräftigen Gesicht, in dem Leid und Demut eine außergewöhnliche Allianz gebildet haben, befördert geradezu stille Gedanken und laute Gefühle. Was mag er jetzt wirklich denken und fühlen?
Sein Leben gleicht der Topografie eines unwegsamen Geländes, einem Gebiet, in dem sich Wetterkapriolen vielleicht nie von ihrer schönsten Seite zeigten. Man könnte geneigt sein, immer noch mit ihm zu leiden: als kleines Kind den Horror der Nazi-Zeit in seiner schlimmsten Fratze erlebt, durchlitten und physisch überlebt zu haben. Und – wie für die meisten Überlebenden des Holocaust – hatte das Ende des Krieges nur Versprechen, aber keine wirkliche Besserung im Gepäck.
Wie lebt man, wenn die Familie ermordet wurde, man selbst durch die Hölle gegangen ist und sich niemand um einen kümmert? Wie lebt man, wenn man nie eine Schule besuchen konnte, keine Ausbildung bekam – so ganz ohne Vision und ohne Hoffnung war, dazu entwurzelt und immer nur herum geschupst wurde? Was tut Mitleid mit einem Menschen? Mit einem Menschen, der 80 Jahre jung ist und ein ganzes gelebtes Leben sein eigen nennt?
Insgesamt sind auf der Feier ungefähr 40 Menschen. Jung. Alt. Mit und ohne Kinder. Der Kontakt untereinander beginnt schleppend; der Fokus liegt natürlich auf dem Geburtstagskind.
Es werden hebräische, englische und deutsche Lieder gesungen, der Kuchen mit unzähligen brennenden Kerzen herein gebracht.
Yosef ist sehr berührt und hält eine kleine Ansprache – noch nie sei sein Geburtstag gefeiert worden. Wenn man ihn nicht kennen würde, würde man an seinem Gesicht keine Veränderung feststellen.
Wieder werden Lieder gesungen, der Text wird per Beamer an die Wand projiziert.
Und Yosef singt mit, aus Herzensgrund – viele Lieder kennt er aus seiner Jerusalemer Gemeinde. Ob er die Texte lesen kann? Wir wissen es nicht. Er hat die deutsche Sprache als Sprache seiner Kindheit mit in die fremde Welt genommen. Nie aber durfte er in einer Schule lesen und schreiben lernen.
Danach beginnen die Laudatoren, sich an ihre persönlichen Begegnungen mit Yosef zu erinnern. Er, der im Café in Jerusalem die deutsche Sprache hört und sich zu den Menschen hingezogen fühlt. Er, der seit einigen Jahren über das persönliche Grauen reden kann – in Yad Vashem im Tal der zerstörten Gemeinden, deren Namen an die Vernichtung durch die Nazis erinnern. Er, dessen Lebensbrücken zerbombt wurden, behielt die Sehnsucht nach seiner Heimat und baute die Brücken in späten Jahren nach und nach wieder auf. Die Festtagsrunde, wohl alles Nachkriegskinder, drückte ihre Dankbarkeit dafür aus, dass ein solcher Kontakt (zwischen Deutschen und einem Holocaust-Opfer) dadurch überhaupt möglich wurde. Doch sind wir wirklich dem Menschen Yosef begegnet, den wir „feiern“ wollten? Oder nicht doch dem Menschen, der zum Opfer wurde?
Im Spiegel eines Opfers wird man allzu schnell selbst zu einem …
Yosef genießt die Feier sehr. Lebt er selbst gut als lebenslanges Opfer oder hat er diesen „Status“ schon lange abgelegt – und lässt nur jedem Menschen das, was dieser benötigt?
Wie ein Kind bläst er die ungezählten Kerzen auf der Torte aus – es ist himmlisch ihn dabei von der Seite aus zu beobachten. Er ist so ein Kind-Mann gebliebener Mensch, der vielleicht weiß, dass niemand ihn jemals zu seinem 80. Geburtstag nach Leipzig eingeladen hätte, wenn er nicht Opfer des Holocaust geworden wäre.
Wenn er nicht Opfer geworden wäre, wenn sein Leben ganz anders verlaufen wäre, wäre er zur Schule gegangen, hätte er selbst Familie gehabt, hätte eine berufliche Aufgabe übernehmen können und hätte seinen 80. Geburtstag (wahrscheinlich in seinem letzten Wohnort Frankfurt am Main) im Kreise seiner Lieben verbringen können.
Wer ist Yosef wirklich? Was für ein Mensch ist er? Kann es den Menschen Yosef, so wie er sich heute zeigt, ohne den Holocaust eigentlich geben?
Wir wissen von seinem erlittenen Leid: physisch wie psychisch. Doch stellt er sich, wie andere Opfer, auch ohne Holocaust, die Frage: Wie wäre ich geworden, wenn …?
Wie kann ein Mensch, der zum Opfer gemacht wurde, sich leben?
Yosef ist Yosef! Auch während dieser Feier. Er ist sich – das spürt man durch und durch. Da können alle, die ein Opfer benötigen, um sich selbst zu spüren, denken und handeln wie sie wollen. Yosef verbucht alles auf der „Haben-Seite“ seines so gedarbten und verlustreichen Lebens. Niemand weiß, was er durchgemacht, was er wirklich in sich selbst durchlitten hat, um so weit zu kommen. Er ist mit sich, mit seinem Leben im Reinen und ist — voller Liebe!
Darüber sollten wir nicht nachdenken. Fühlen …
Euer iLANOT