So fängt es an. Meistens.
I have a german background, but honestly – I do not know anything about my roots.
Ein Satz, der in eine Gruppe Redender hineingeworfen wird. Wenn Israelis und Deutsche zusammen sitzen. Egal wo auf dieser Welt sich diese Gruppe findet. Zufällig oder absichtlich. Irgendwann wendet sich das Thema geradewegs oder gewunden dem Holocaust zu. Manchmal oder eigentlich meistens hat mindestens einer aus der Gruppe, der entweder Israeli oder ein Jude einer anderen Nationalität ist, diesen Satz auf den Lippen und wenn er dann ausgesprochen ist – ist es um iLANOT auch schon geschehen.
So auch Ende Mai 2015
auf dem Kölner Heumarkt bei einem Gläschen Eiswein. Vier israelische Frauen, deren Männer für einige Zeit in Deutschland arbeiten, hatten sich zu einem Besuch in der Dom-Stadt angesagt.
Köln und seine Bewohner zeigten sich an diesem Tag von genau der Seite, die den Ur-Kölner Glauben „… wir sind die nördlichste Stadt Italiens“ unterstrich. Die vier israelischen Damen, die am Vorabend angereist waren, staunten nicht schlecht ob der lächelnden Menschen, die ihnen auf der Straße begegneten.
Die Tour durch den Dom war kurz und auch -weilig. Das Richter-Fenster wurde bestaunt, fotografiert und belächelt.
Der Schrein der Gebeine der Heiligen Drei Könige hinterließ interessiertes Unverständnis und die Information, dass genau deswegen Köln zu den 3 heiligsten Pilgerstätten der Christen (nach Jerusalem und Rom) gehört, entlockte das wunderschön klingende „Oi-wa-woi“, mit dem die Israelis alles bedenken, was uns Deutschen gerademal ein banales „Ach“ wert ist.
Der Dom wurde als architektonisches Meisterwerk wahrgenommen – doch sicherlich auch als das, was er auch ist: Ausdruck christlicher Monstrosität. Gesichter können Bücher erzählen.
Und mit Köln ist es ja so wie mit Israel:
man fährt zum ersten Mal hin und entweder man wird sofort infiziert und verfällt in Liebe oder man findet es ganz schrecklich.
Schnell noch auf die Eisenbahnbrücke und die Millionen Liebes-Schlösser beschaut, dann runter zum Rhein, dessen väterlicher Beiname mit jedem ausländischen Besucher klarer wird – besonders für Menschen, deren kommende Kriege nicht mehr um Religion und Gebiete, sondern um Wasser gekämpft werden.
In solch einem Blogbeitrag kann man sich recht einfach vergaloppieren – besonders wenn das Ziel gar nicht das Ziel ist. Wen interessiert schon DER Fluss aller deutschen Flüsse und die hässlichst-schönste Stadt Deutschlands.
Machen wir es kurz – jedenfalls kürzer als der Holocaust wütete und lassen wir uns nicht wüten, sondern langsam, bedächtig, Schritt für Schritt und immer in dem Tempo voran- und mitgehen, den „die“ gehen, denen unsere Groß- und Ur-Großeltern genau die Ihren gestohlen, genommen, ermordet haben.
Lassen wir uns selbst einmal leise sein und uns hinhören und hier besonders auf das nicht Gesagte – lassen wir uns selbst einen Augenaufschlag hören, wie die Wimpern aneinander schlagen, wenn ein Lid sich schließt, während ein Mensch sagt:
„… but honestly, I do not know anything about my roots.“
Und geben wir uns selbst die Chance, neben den ungehörten Geräuschen auch den Blick zu sehen und ihm nicht auszuweichen, nur weil er uns selbst so sehr treffen würde.
Schauen wir hin
Schauen wir in die Augen und dadurch mitten hinein in diesen Menschen, den wir gerade erst kennen gelernt haben.
Wenn wir diese Furcht überschreiten und diesen einen kleinen Augenblick uns selbst erlauben, werden wir nicht mehr sein wie zuvor, weil darin und dahinter genau das hervortritt, was unsere Groß- und Ur-Großeltern nicht hatten: Empathie.
Empathie für die Opfer und Nachkommen der Opfer durch den Holocaust zu empfinden
Das ist erste Bürgerpflicht in Deutschland – sie wird uns nur nicht beigebracht. Dafür kennen wir Hitlers Geburtstag und wissen, dass „Mein Kampf“ verboten ist. Wir lernen durch das, was uns von der Geschichte beigebracht wird: Zahlen, Fakten, Namen und uns wegzuducken – aus Scham oder aus dem Gedanken heraus: alles schon so lange her – und den beliebtesten Satz: „Jetzt ist aber mal gut.“
In der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 16.7.2015 steht der bemerkenswerte wie auch einfache Satz: „Für die Opfer gilt ein Lebenslang, weshalb nicht für die Justiz?.“ Leider definiert der (gemeine) Deutsche das Wort Opfer und dessen Rechte immer nur mit Bezug zu einem direkt beteiligten Opfer. Aber diese sind nach deutscher Vorstellung ja schon fast alle tot. Nur für sich selbst und seine jugendlichen, seine betrunkenen, unter Drogen stehenden und/oder in schlechten sozialen Verhältnissen groß gewordenen Straftäter fordert er eine (bis in die 4. Generation) anhaltende Milde, Re-Sozialisierung und Entschädigung.
Wieso aber nicht für die Enkelin von Großeltern
die in Auschwitz mit fast 75 Jahren vergast worden sind und deren Töchter im Teenager-Alter in Israel mit allem weiter lebten, nur nicht mit ihren Eltern?
Wieso sind wir
mittlerweile in der 3. Generation nach der Katastrophe – immer noch nicht fähig zu trauern? Wir sind doch mittlerweile alt genug, in unserer jungen Bundesrepublik, dass aus dem Trauern schon längst Empathie hätte entstehen können.
Wir sind immer noch dabei zu rechtfertigen, zu schweigen, abzuwiegeln und darauf zu verweisen, dass wir „damit“ ja gar nichts zu tun hatten.
Wie werden wir verfahren mit den Familien, Angehörigen und Nachkommen von jenen, die uns gegenüber einmal zu Tätern werden (könnten)?
Wünschen wir unseren Nachkommen, dass sie auf Menschen stoßen werden, die den Augenaufschlag hören, während jemand in einer zusammen gewürfelten Runde sagt:
„I have a german background – but honestly …“
Schnitt.
Zwei Wochen später erreichte an einem Freitagabend gegen 22 Uhr iLANOT eine Mail mit folgendem, etwas korrigiertem Inhalt:
Hope you remember me, Moran, I was with the girls in koln last month.
(Excuse me for the bad English …)
First of all I want to thank you for the charming tour and interesting explanations. I enjoyed very much and I think you’re a special woman, full of love for the Jewish people.
I would be delighted if you could help me find out some information about my mother’s family.
I want to know how they died in the Holocaust … I also want to find the house where they lived in Karlsruhe.
And even maybe to find relatives we did not know …
The family name is Adler my grandmother called in Germany Berta She immigrated to Israel in 1938. She has another sister, but I don’t know what was her name in Germany (I can find). She immigrated to Israel as well.
Bertha’s parents called Aliza and Zigmund. Both were murdered in the Holocaust.
I think I wrote the names with misspellings, I think you write it different in German.
I would be delighted if you could help me.
Thank you and good night.
Moran“
Und wie die Leidenschaft von iLANOT in solchen Fällen vorgibt
folgte dieser Mail ein ca. 48-stündiger Recherche-Marathon, unterbrochen nur von den üblichen menschlichen Bedürfnissen – auch deswegen, weil Moran in einer nachfolgenden Mail mitteilte, dass ihre Eltern in wenigen Tagen zu Besuch nach Deutschland kämen. Und, weil (auch wenn es kitschig klingen mag) bei solchen Anfragen das Herz von iLANOT blutet.
So geschehen: noch vor Sonntagabend erhält Moran per Mail einen Stammbaum, in dem ihre Großeltern, deren Eltern und ein Enkel eines Bruders der Großmutter genannt sind. Letzterer lebt in den USA und da dieser gerade auf Geschäftsreise in China weilt, kann iLANOT ihn nicht erreichen. Aber seine Ehefrau, die ganz perplex, aber erfreut auf den Anruf reagiert.
Am Dienstag schon erhält iLANOT einen Anruf vom Stadtarchiv in Karlsruhe und kurz darauf alle Urkunden (kostenfrei!) aus dem Standesamt in Karlsruhe – die eigentlich noch unter der üblichen Sperrfrist für Personenstandsunterlagen liegen.
Morans Urgroßeltern lebten zwischen 1918 und 1941 insgesamt an fünf Adressen in Karlsruhe – großväterlicherseits kam die Familie aus einem Kaff in Hessen und -mütterlicherseits aus ebensolchem der Pfalz.
Die Mails und Anrufe gehen in den kommenden Tagen geschwind hin und her – Archive, Genealogen, Standesämter, Moran und iLANOT. Yad Vashem, eine Datenbank zu Wiedergutmachungsakten und das Gedenkbuch zu Opfern des Holocaust werden durchwühlt. Die Familie in Israel wird hautnah via WhatsApp informiert.
Schnitt.
Die Eltern sind längst in Deutschland gelandet und da es heiß ist, werden sie wenigstens ihr Wetter in Deutschland nicht vermissen. Mit Moran wird ein Treffen in Karlsruhe verabredet, um gemeinsam den Spuren der Familie nachzugehen. Der Zug aus Köln hat über eine Stunde Verspätung. Eigentlich ein Grund des Ärgernisses – aber (zugegeben) nicht, wenn am anderen Ende Israelis warten. Da kommt Erleichterung auf: Deutschland ist eben doch nicht perfekt. Wie gut.
Dann das erste Aufeinandertreffen
Beide Seiten sind aus unterschiedlichen Gründen aufgeregt. Bestimmt. Und dennoch ist die Begrüßung herzlich – auf eine sehr berührende Art still und zurückhaltend. Alle sind sich ja noch fremd, sehr fremd. Und niemand weiß vom anderen, was ihm dieses Treffen bedeutet – welche Gefühle das Atmen kürzer macht.
Mit dem Auto, in der einen Hand den Stadtplan von Karlsruhe und in der anderen alle Adressen der Familie, geht es dann durch die ehemals badische Residenzstadt. Schön anzusehen, besonders weil am Ende dieser Tour festgestellt werden kann, dass keines der Häuser zerstört worden ist.
Allmählich setzt sich die Geschichte dieser Familie wie ein Puzzle zusammen:
Morans Großmutter und deren Schwester wurden in Karlsruhe Anfang der 20er Jahre geboren. Die Eltern, Elisabeth und Siegmund kamen jeweils aus einer großen Familie. Die Eltern Landwirte, einfache Bauern oder Handel Treibende. So genau konnte dies noch nicht recherchiert werden. Die Eltern von Elisabeth machten sich um die Jahrhundertwende aus wirtschaftlichen Gründen aus der Pfalz auf in die Großstadt Karlsruhe. Weshalb der Urgroßvater Siegmund nach Karlsruhe kam, ist nicht bekannt. Die beiden, Siegmund und Elisabeth, scheinen sich in Karlsruhe kennen gelernt zu haben. Es wurde geheiratet und kurz aufeinander folgten die Töchter: Bertha und Karolina.
Siegmund betrieb ein kleines Geschäft mit Schweißmaschinen. Anhand der wechselnden Adressen schien es immer wieder finanzielle Schwierigkeiten gegeben zu haben. Ab 1933 ging es kontinuierlich bergab. Siegmund wurde schon früh in „Erzwingungshaft“ in Dachau genommen – so wollten die Nazis damals die Juden (noch) zur Auswanderung bewegen. Nach 14 Tagen kam er zwar wieder frei – aber wohl mit dem Bewusstsein, dass eine sichere Zukunft in Deutschland nicht mehr gegeben war. Er und seine Frau beantragten sofort für sich und die Töchter Reisepässe auf dem Polizeipräsidium ihrer Heimatstadt. Es dauerte geschlagene 5 Jahre, bis den Töchtern diese ausgestellt wurden – die Eltern erhielten ihre erst ein Jahr später – zu spät. Da war eine Ausreise nicht mehr möglich.
Bertha und Karolina reisten im März 1938 mit der „Youth Aliya“ nach Palästina und sahen ihre Eltern nie wieder – diese wurden via Gurs nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Schnitt.
Morans Mutter, die Tochter von Bertha, äußerte sich während der Tour durch Karlsruhe kaum. Still, ihre Gefühle für sich behaltend, in kleinen Schritten sich vorwärtsbewegend. Sie wirkte beladen oder wie ein Nicht-Schwimmer am Beckenrand eines großen Pools. Erst nach und nach wurde klar weshalb.
I have a german backround, but honestly …
Ihre Mutter Bertha hatte, wie in dieser Generation von Überlebenden oder „Davon-Gekommenen“ üblich, nichts erzählt. Außer den Namen der Eltern und vielleicht noch, wie sie nach Israel gekommen war. Nichts. Einfach nichts.
Und nun, um in dem Bild zu bleiben, tapste Morans Mutter angerührt, fast unbeholfen, interessiert , erinnerungsüberwältigt und von ihren eigenen Gefühlen eingenommen durch die Geschichte ihrer Mutter und ihrer Großeltern. Hin und wieder eine erkennbare Regung; ein stärkeres Schauen, ein Achselzucken, ein Blinzeln, eine kurze Nachfrage: „Here?“, als könne sie es nicht glauben, dass ihre Mutter vor 80 Jahren diesen oder diesen Weg zur Schule gegangen sei.
Auf dem jüdischen Friedhof, nachdem alle bekannten Adressen der Familie bestaunt und fotografiert wurden, war das Grab der Ur-Ur-Großeltern von Moran das nächste Ziel. Wie wichtig das sein würde, zeigte sich bald. Übrigens starben beide – ברוך שם eines natürlichen Todes: 1936 und 1939.
Der Friedhof, überraschend gepflegt und dennoch ursprünglich mit alten zugewachsenen Gräbern, verborgen unter Moos und viel Grün. Ein freundlicher Mitarbeiter weist den Weg.
Nun machen sich vier Menschen daran, Reihe für Reihe abzuschreiten, über umgekippte Steine zu steigen, deren Inschriften wichtige Informationen auf das jeweilige Jahr der Beisetzung geben.
Dann ein Schrei: „Here it is!“ Und tatsächlich – ein offensichtlich gerade geputzter, schulterhoher Stein mit den Inschriften von Salomon und Augusta Westheimer.
Dann….. Stille.
Aus einer mitgebrachten Tüte stellt Morans Vater Gedenklichter aus Israel rechts und links auf den Grabstein. Steine werden gesammelt und daneben gelegt.
Dann….. Stille.
Dann.
„Hier stand auch meine Mutter als sie 14 Jahre jung war. Sicherlich. Zur Beerdigung ihres Großvaters.“
Morans Mutter war in der Geschichte ihrer eigenen Mutter angekommen.
Euer iLANOT